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Pech am Gummistiefeltag
[gerichtsbericht]
Sigrun hatte in der Nachsaison in Dänemark ein Ferienhaus auf der Insel Falster gemietet. Mitfahren sollten ihr Ehemann Ralf, die Zwillinge Björn und Bert, Tante Hete und der Rauhhaardackel Toby. Alles war ganz wunderbar, denn der Preis betrug nur knapp die Hälfte von einem vergleichbaren Objekt an der deutschen Ostsee. Am Sonnabend sollte es losgehen. Bis dahin galt es noch etliche Besorgungen zu machen. Am Freitagnachmittag fuhr Sigrun mit ihrem Kombi in die Stadt, um Regenjacken und Gummistiefel für die Kinder zu kaufen, den Fotoapparat von der Reparatur zu holen und ein Paket an Oma Lieschen in Wuppertal aufzugeben. Unterwegs kam die junge Frau einem unerklärlichen Phänomen auf die Spur: Die Zeit konnte sich dehnen und zusammenziehen! Die letzten Wochen bis zum Urlaub waren zäh wie Sirup getropft. Und nun, kurz vor der Abfahrt, rasten die Zeiger der Uhr wie verrückt. Die Viertelstunden schienen sich zu überschlagen. Die Minuten waren gänzlich abgeschafft. Und dabei hatte sie noch so viel zu erledigen. Doch damit nicht genug. Bekanntermaßen eignen sich selbst normale Freitagnachmittage nicht für Fahrten in die Stadt, weil der Berufsverkehr ab 13 Uhr die Straßen verstopft. Sigrun hatte mit viel Mühe eine Parklücke in Sichtweite vom Fotoshop gefunden, und nun kam sie nicht mehr heraus. Der Verkehr auf der Hauptstraße rollte ohne Unterlaß an ihr vorbei. Ihr Blinker tickte tack-tack-tack. Es nieselte. Die Fenster beschlugen. Die Klimaanlage war kaputt. Sigruns Puls stieg ständig. Kalter Schweiß rann ihr den Rücken hinab. Die nassen Haare klebten am Kopf. Die Zeit raste. Es ging auf vier. Punkt vier würde die Postfiliale schließen. Sigrun hatte schon alle Hoffnung fahren lassen, da flammte hinter ihr ein Scheinwerfer auf. Ein zuvorkommender Taxichauffeur hielt an, um ihr die Ausfahrt aus der Parklücke zu ermöglichen. Sigrun hob zum Dank die Hand, lenkte nach links und gab Gas. Peng, bumms, krach, knall. Blech verknäulte sich mit Blech. Was war passiert? Hermann, der einen PS-starken Mittelklassewagen älterer Bauart steuerte, war auf der rechten Spur gefahren. Als das Auto vor ihm für Sigrun anhielt, hatte er links überholt. Gleich darauf war er wieder nach rechts eingeschert. Die vermeintlich freie Lücke hatte aber inzwischen der Kombi ausgefüllt. Deshalb kam es zum Zusammenstoß. Die junge Frau war sich keiner Schuld bewußt und forderte den Ersatz des gesamten Schadens, einschließlich der Leihwagenkosten für die Fahrt nach Dänemark. Die Sache kam vor Gericht. Sigrun meinte: "Der Beklagte hat in einer unklaren Verkehrslage überholt und beim Einscheren nicht darauf geachtet, daß andere Verkehrsteilnehmer nicht geschädigt wurden." "Oh nein, meine Dame", entgegnete Hermann: "Wer vom Fahrbahnrand anhält, hat sich so zu verhalten, daß eine Gefährdung des fließenden Verkehrs ausgeschlossen ist." "Ganz genau", fügte sein Anwalt hinzu. "Der Anfahrende darf nicht darauf vertrauen, daß der rechte Fahrstreifen frei bleibt, sondern muß stets mit einem Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen." "So ist es", sprach der Richter das Urteil: "Die Klägerin haftet allein. Sie wurde weder überholt, noch liegt ein Überholen in einer unklaren Verkehrslage vor. Die Klage wird deshalb abgewiesen." Die Begriffe aufmerksam und rücksichtsvoll kamen an diesem Tag im Gerichtssaal 305b nicht zur Sprache.
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