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Der dicke Mann als Pflichtverteidiger

[gerichtsbericht]

Bertold war Anwalt von Beruf. Er arbeitete ausschließlich als Straf-
verteidiger und stand kurz vor der Rente. Weil er 1,85 Meter groß und 120 Kilogramm schwer war, pflegte er sich mit kurzen, watschelnden Schritten vorwärtszubewegen. Seine voluminöse Bierwampe schob er vor sich her wie eine Wöchnerin ihren Bauch am Tag der Entbindung. Ständig hing ein Hemdzipfel aus dem Bund seiner dunkelblauen Tuchhose, die vor vielen Monaten zum letzten Mal einem Bügeleisen begegnet war. Die dünnen Zotteln auf seinem kugelrunden Kopf verlangten dringend nach einem Haarschnitt. Sein Gesicht war immer hochrot und schweißüberströmt. Bertold teilte das Schicksal vieler anderer dicker Menschen: Er pflegte sich beim Essen zu bekleckern. Von seiner Weste ließ sich mühelos die Speisekarte der letzten Woche ablesen. Die Richter haßten ihn wie die Pest. Das lag weniger daran, daß seine zerschlissene Robe mit Flecken von Zigarrenasche übersät war und so roch wie eine überfüllte Hafenkneipe um Mitternacht. Es hatte auch kaum etwas damit zu tun, daß Bertold ständig die Namen der Zeugen, Sachverständigen sowie Angeklagten verwechselte und häufig während der Verhandlung einschlief. Der wahre Grund war ganz simpel: Die Richter konnten den fetten Anwalt nicht leiden, weil er die Strafprozeßordnung in- und auswendig kannte und sie als scharfe Waffe zur Verteidigung seiner Mandanten benutzte. Er stellte die unsinnigsten Beweisanträge, lehnte regelmäßig die Vorsitzenden wegen angeblicher Befangenheit ab und streute nach Leibeskräften Sand in das Getriebe der Prozeßführung. Die Resultate gaben ihm recht. Seine Erfolgsquote war die höchste im gesamten Gerichtssprengel. An einem Tag im Februar bekam der dicke Mann eine neue Verteidigung angetragen. Es war ein einfacher Fall. Nach einer Massenschlägerei in einer Diskothek war ein Jugendlicher verhaftet worden, weil er nicht schnell genug wegrennen konnte. Bertold beantragte die Beiordnung als Pflichtverteidiger. Als der vorsitzende Richter Dr. Claus den Antrag las, wußte er sofort, was ihn erwartete: Bertold würde unzählige Zeugen laden lassen, vom Taxifahrer über den Barmann bis hin zur Klofrau. Aus einem simplen kleinen Prozeß würde ein Mammutverfahren werden. Aber Dr. Claus wußte ein Mittel dagegen. Er griff zur Feder und notierte: "Unter Bezugnahme auf eine Reihe von Vorkommnissen in früheren Verfahren wird es abgelehnt, Herrn Rechtsanwalt Bertold zum Pflichtverteidiger zu bestellen, weil er zu einem sachgerechten und verfahrensfördernden Handeln nicht in der Lage ist." Das war starker Tobak. Bertold legte gegen den Beschluß Rechtsmittel ein. Die Beschwerdeinstanz gab ihm Recht: "Eine für das Gericht nicht oder nur schwer nachvollziehbare Verteidigungshandlung kann aus Sicht des Angeklagten sinnvoll und notwendig erscheinen. Die Rechtsanwalt Bertold angelasteten Verhaltensweisen mögen störend, teilweise nicht sachdienlich und aus Sicht des Gerichts auch ärgerlich gewesen sein. Sie waren jedoch in keinem Fall von solchem Gewicht, daß dadurch die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens ernsthaft gefährdet worden wäre." Rechtsanwalt Bertold mußte als Pflichtverteidiger beigeordnet werden. In dem Prozeß wurden 37 Zeugen gehört, die sich in ihren Aussagen teilweise stark widersprachen. Das Urteil für den Mandanten des dicken Mannes lautete am Ende: Freispruch aus Mangel an Beweisen.
 

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